Freiheit, Fahrtwind, Pancake
Die Theaterproduktion "Woanders ist nur ein bisschen weiter" erzählt von einer zu oft übersehenen Pionierin
von Magdalena Kühne
Die Straße gehört ihr – dem tapferen Mädchen, das eines Tages auf ihrem Motorrad in die weite Welt aufbricht. Die Theaterproduktion "Woanders ist nur ein bisschen weiter," basierend auf Amy Noveskys Kinderbuch "Das Mädchen auf dem Motorrad," führt Kinder ab fünf Jahren unter der Regie von Cindy Ehrlichmann und mit Dramaturgie von Dagmar Domrös auf eine erlebnisreiche Reise durch die Geschichte einer mutigen Frau. Die Inszenierung, vorgestellt im Rahmen des „Berliner Schaufensters“, bringt ein Abenteuer auf die Bühne, getragen von den Darstellungen von den Performerinnen Friederike Alphei und Iduna Hegen.
Heldin auf zwei Rädern
Die Reise der Protagonistin bildet den Kern der Theaterproduktion "Woanders ist nur ein bisschen weiter". Das Stück beginnt mit der Abfahrt des Mädchens am Arc du Triomphe in Paris und führt die Zuschauer:innen durch verschiedene Kontinente. Die Inszenierung erzählt die wahre Geschichte von Anne-France Dautheville, die im Jahr 1973 die Welt auf ihrer Kawasaki 125 erkundete. Durch ihre Reise, die vor dem Hintergrund der Forderungen nach mehr Rechten und Freiheiten der 1968er Jahre stattfand, erlangte Anne-France Dautheville nicht nur Ruhm als die bahnbrechende Frau, die eine Solo-Weltreise auf einem Motorrad unternahm, sondern auch als Persönlichkeit, die entschlossen ihren eigenen Träumen folgte, ungeachtet gesellschaftlicher Erwartungen und Geschlechtsstereotypen. Ihr Abenteuer, festgehalten in literarischen Werken wie "Der Wind war mein Begleiter" (1976), diente als Quelle der Inspiration und fand Ausdruck in vielfältigen künstlerischen Formen wie Fotografie, Mode, Literatur und Theater. Diese Inszenierung stellt eine weibliche Heldin in den Mittelpunkt, die im Kontrast zu den häufig marginalisierten Frauenrollen in herkömmlichen Road-Movie-Genres steht.
Winzige Requisiten, große Wirkung
Die Herausforderung, das vorwiegend im Film verankerte Road Movie-Genre auf die Theaterbühne zu adaptieren, wird von der Regisseurin mit Geschick gemeistert. Mit minimalistischen Mitteln, allen voran einem schlichten Tisch und einer Leinwand, schafft das Team eine Bühnenwelt, die das Publikum unmittelbar in den Sog der Handlung zieht. Auf und um den Tisch entfaltet sich die Reise des mutigen Mädchens, während die Schauspielerinnen mit Miniaturobjekten kunstvoll die Kulissen gestalten. Besonders ausgeklügelt ist die Verwendung eines Miniaturmotorrads auf einem Plattenspieler – ein subtiler, jedoch höchst wirkungsvoller Kniff, der die 'on the road'-Momente der Protagonistin treffend symbolisiert.
Daneben setzt die Inszenierung auf einen eindrucksvollen Mix aus Mitteln wie Lichteffekten, Lebensmitteln und einem Föhn. Die musikalische Untermalung, bestehend aus Bass, Looper und Gesang erfüllt dabei eine erzählerische Funktion. Diese wird durch eine Erzählerstimme verstärkt, die sich präzise Gehör verschafft. Man kann förmlich den Duft der Pancakes riechen, den Wind auf der Haut spüren und unter einem sternübersäten Himmel träumen. Die hektischen Geräusche des Verkehrs, das Rauschen des Wassers – all das wird durch die geschickte Regieführung zum Leben erweckt. Es wird gesungen, gestaunt und vehement nach mehr Wind und Pancakes verlangt.
Eine weibliche Perspektive?
Besonders fällt die Fokussierung auf die innere Welt der Hauptfigur auf. Die Entscheidung, trotz einer Fülle von visuellen und sinnlichen Reizelementen, auf eine akkurate geografische Darstellung bewusst zu verzichten, lenkt den Blick auf die Gedanken und Emotionen der Protagonistin entlang ihrer Reise. Die Einbindung einer Ich-Perspektive, welche die Erzählerstimme durchbricht, sowie die abwechselnde Darstellung durch zwei Schauspielerinnen verstärken die Intimität zum Charakter. So wird die tiefgehende innere Transformation der Hauptfigur von anfänglichen Selbstzweifeln über Gefühle von Angst, Freiheit, Geselligkeit, Einsamkeit bis hin zur Akzeptanz der Vergänglichkeit unmittelbar erfahrbar – ein Prozess, der in der Auflösung innerer Konflikte bei ihrer Rückkehr gipfelt.
Das klassische Erzählmuster von Roadmovies: Der Protagonist verlässt sein vertrautes Umfeld, wird durch die Widrigkeiten der Welt geprägt und kehrt letztlich als gereifte Persönlichkeit zurück. In dieser Inszenierung tritt jedoch das übliche Motiv der Selbstfindung in den Hintergrund, denn besonders betont wird hier die Entschlossenheit der Hauptfigur. Ihre beeindruckende Willenskraft wird durch die Erzählerstimme unterstrichen: "Sie stürzt oft... Aber sie steht immer wieder auf." – "Sie hat keine Angst, sie ist frei." – "Es braucht Mut, damit ein Mädchen so leben kann." Die Konfrontation mit Hindernissen wie Stürzen, einem defekten Motorrad, Gefahren der Nacht, Schatten oder Einsamkeit sowie die erworbenen Fähigkeiten, wie das Feuermachen oder das Reparieren einer Kawasaki, präsentieren das Mädchen als eigenständige und überlebensfähige Persönlichkeit. Eine weibliche Hauptfigur, die in ihrer Verletzlichkeit Kraft schöpft und sich vor Hindernissen behauptet.
Die tiefere Bedeutung ihres Mädchen-Seins bleibt für ihre Stärke und Resilienz während ihrer Reise jedoch im Dunkeln. Sowohl die vielfältigen Herausforderungen, denen die Protagonistin begegnet – die im Grunde auf das allein Reisen im Allgemeinen zurückzuführen sind – als auch die nahezu romantisierte Begegnung mit Sam, ihrem Reisebegleiter durch den kanadischen Wald, stehen exemplarisch für verpasste Gelegenheiten, die komplexe Realität des Reisens aus einer weiblichen Perspektive zu erforschen. Die Regieentscheidungen betonen zweifellos die Stärke der Hauptfigur, verzichten jedoch darauf, sich ausführlich mit den spezifischen Herausforderungen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen, die mit der Erfahrung und Aneignung weiblich gelesener Körper im öffentlichen Raum einhergehen.
"I’m not an -ism"
Anne-France Dautheville weist selbst kategorische Zuschreibungen bezüglich ihrer Reiseerfahrungen und Abenteuerlust als feministisches Mobilitätsmodell mit einem klaren "I’m not an -ism" zurück. Im Einklang damit erhebt das Theaterstück "Woanders ist nur ein bisschen weiter" keinen Anspruch darauf, ein feministisches Mobilitätsmodell auf die Bühne zu bringen. Die Darstellung einer starken weiblichen Protagonistin als Plädoyer für Frauenpower zu verstehen, greift meiner Ansicht nach zu kurz.
Vielmehr lädt das Stück dazu ein, der eigenen inneren Stimme Gehör zu schenken und sich unablässig für die Verwirklichung von Träumen stark zu machen, ungeachtet gesellschaftlicher Erwartungen. In Wirklichkeit befindet sich das, wonach wir suchen, oft nur einen winzigen Schritt entfernt – eine Erkenntnis, die der Titel "Woanders ist nur ein bisschen weiter" prägnant zum Ausdruck bringt. Diese Botschaft ist universell.
Diese Theaterproduktion inszeniert nicht nur eine inspirierende Geschichte, sondern öffnet auch ein Fenster zu oft übersehenen Pionierinnen. Die vergleichsweise späte Anerkennung der Reisedokumentationen von Anne-France Dautheville, die erst durch ihre Würdigung als Muse für die Herbstkollektion 2016 des Modehauses Chloe breite Resonanz fanden, verdeutlicht eindrucksvoll das Schicksal zahlreicher Frauen, deren Lebensgeschichten lange im Schatten der Geschichte verweilten. Die Produktion gestaltet auf unterhaltsame Weise eine Bühne für derartige Geschichten und liefert wesentliche Impulse für eine Diskussion über die noch unterschätzte Rolle des Kindertheaters im Kontext der Erinnerungskultur – über die unsichtbaren Pfade weiblicher Pioniere und die transformative Kraft des Theaters, sie ins Licht zu rücken.