Die Wunder der Welt und des Theaters

"Erdenwunder an Planetenzauber" in der Tanzhalle Wiesenburg im Rahmen des Festivals Berliner Schaufenster

von Lena Scheitz

„Macht’s euch gemütlich“, lautet die Aufforderung. Und so verteilt sich das junge Publikum – zwei Kita-Gruppen aus dem Wedding – auf die am Boden liegenden Matten und erklimmt die drei Tribünenstufen des Theaterraums. Für viele der anwesenden Kinder ist das heute sicher der erste Theaterbesuch: Die jüngsten unter ihnen sind gerade mal ein Jahr alt, die ältesten etwa vier. Schon am Rand der Bühne werden sie von den drei Darstellerinnen, deren Gesichter mit bunten Punkten verziert sind, begrüßt. Im Zuschauerraum ist genug Platz, damit sich die jungen Zuschauer:innen auch während der Vorstellung bewegen können. Begleitet wird das freundliche Eintrittsprocedere von Gitarrenmusik. Der Musiker, mit denselben Punkten verziert wie die Darstellerinnen, sitzt gut sichtbar am Rand der Bühne. Dann beginnt das Stück „Erdenwunder an Planetenzauber“ vom Kollektiv „Liaison à faire/ Gestalten in Bewegung“.

Die drei Darstellerinnen begeben sich hinter runde, mit Stoff bespannte Ringe und „schlüpfen“ zu melodischer Gitarrenmusik langsam dahinter hervor. Mal sieht man nur ein paar Hände, dann die Füße, schließlich die Körper in Gänze. An dieser Stelle werden schon erste Zuschauererwartungen gebrochen: „Ich dachte, das ist Theater“, ruft ein Kind. Es lässt sich erahnen, vor welchem Erfahrungshorizont es seine Aussage trifft: Bekannt sind dem Kind wohl eher klassisch narrative Vorführungen, eventuell Puppentheater oder Märchenerzählungen. Stattdessen gibt es hier: Musik, Objekte und Bewegung.

Doch enttäuscht wirken weder der kleine Kommentator noch seine Kita-Kamerad:innen: Die Blicke ruhen gebannt auf den sich verändernden Körpern auf der Bühne, folgen den Bewegungen der Objekte und staunen über musikalische Wechsel. Die Aufmerksamkeitsphasen der Kinder werden hier gut abgepasst. Sobald man das Gefühl hat, die ersten Kinder verlieren den Fokus, findet auch Veränderung auf der Bühne statt: die Objekte werden auf dem Kopf balanciert, durch die Luft gewirbelt und geschwungen. Für erstauntes Raunen und faszinierte Rufe sorgen vor allem die Lichtprojektionen: ein blauer Ozean, eine grüne Wiese, schließlich eine rote Wüste. Technisch sind diese zwar nicht ganz perfekt umgesetzt – oft reichen die simplen Beamerprojektionen nicht ganz über die bespannten Ringe – aber eine Faszination für Lichtspiele lösen sie allemal aus.

Auch wenn es in dem Stück kein eindeutiges Narrativ gibt: eine Dramaturgie gibt es sehr wohl. Von der eher ruhigen und gleichmäßigen Gestaltwerdung zu Beginn, über schnellere und wildere Bewegungen, die schließlich in einem eher spielerischen Erkunden von Körper und Bühnenraum münden. Abschluss und Übergang zum partizipativen Teil des Stückes bildet ein – leicht schiefer – Gesang, bestehend aus dem anthroposophisch anmutenden Titel des Stücks „Erdenwunder an Planetenzauber“ und an ‚Babysprache‘ erinnernde Lautfolgen „Du-du-du-du, da-da-da-da“. Der Takt der Musik bleibt für den anschließenden partizipativen Teil bestehen. Der Publikumsraum wird beleuchtet, die Darstellerinnen führen beispielhaft Bewegungen mit den Objekten vor, bieten sie den Kindern an, ohne sich ihnen aufzudrängen. Schon bald spielen die meisten Kinder mit den Ringen, ahmen Gesehenes nach, bewegen sich im Takt der Musik.

Als erwachsene Zuschauerin habe ich zur Dramaturgie und zu den Tanzbewegungen zahlreiche Assoziationen. Ich sehe Planetenwirbel im All, evolutionäre Entwicklungsstufen vom Meeres- zum Landtier, Entstehungsprozesse auf Zellebene, erste Bewegungsversuche in ungewohnter Umgebung. Auch wenn – mutmaßlich – die wenigsten Kinder diese Assoziationen teilen, so zeigen sie doch viele Emotionen, die mit all diesen ‚wunderlichen‘ Entstehungs- und Umgestaltungsprozessen verbunden sind: Verwunderung, Spannung, Erstaunen, Neugierde.

Man stößt sich an wenig bei diesem Stück, es wirkt sauber durchkomponiert und perfekt abgestimmt auf kindliche Wahrnehmungsmuster und Aufmerksamkeitsspannen. Alles ist irgendwie wohlgeformt und so rund wie die bespannten Ringe, die uns durchs Stück begleiten. Bei einem Stück für etwas ältere Kinder wäre ich vielleicht versucht zu fordern, den Kindern ruhig etwas mehr zuzumuten, Regeln zu brechen, unkonventioneller zu sein. Doch der sehr jungen Zielgruppe begegnet dieses Stück auf Augenhöhe und lädt sie ein, nicht nur die Wunder der Welt zu bestaunen, sondern auch die des Theaters: emotionales Erleben über die Rezeption von Bewegung, Licht und Musik, Spaß an Tanz und Spiel mit Objekten. Und zu guter Letzt: die Erfahrung vom Theater als eigenem experimentellem Raum zu machen.

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